Echo

Zu berichten ist von einem Konzert, das in seiner Qualität, Einzigartigkeit und tiefen Emotionalität nicht nur in Luzern Beachtung hätte finden sollen, sondern weit über die Schweiz hinaus.

Allein: nicht nur in Luzern, auch in Zürich und Bern wurde dem Konzert wenig Beachtung geschenkt, und es befanden sich nicht in jedem Fall gleich viele Besucherinnen und Besucher im Publikum, wie sich Musikerinnen und Musiker auf der Bühne befanden. Ich spreche von der »Markuspassion« auf das erhaltene Textbuch Picanders, das Johann Sebastian Bach für die Vertonung seiner verschollenen Passion nutzte. Nikolaus Matthes, historisch ins Detail informiert (was sich den Zuhörenden während der Aufführung ohne jeden Zweifel erschliesst), hat diesen Text neu komponiert – vollendet weit über das rein Handwerkliche hinaus, in zarteste Verästelungen von Musikalität, Architektur, Tonartencharakteristiken und annähernd sensitiver Emotionalität.

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Folgendes: Einige der besten Musikerinnen und Musiker der Barockszene Europas haben sich zusammengefunden, um dieses Werk zu erarbeiten und aufzuführen: Eine herausragende Continuogruppe, einige der besten Solistinnen und Solisten im Gesangsbereich, hocherfahrene und inspirierte Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, wie Traversos, Blockflöten, Gamben, Celli, Oboen, Hörner, Violen und Violinen (schon aufgrund der Namen im Programm hätte es der hiesigen Presse dämmern müssen, dass Aussergewöhnliches bevorstand), ein Chor von enormer Leistungsfähigkeit, changierend zwischen Bach und atemberaubend modernen Ausbrüchen – sie alle liessen sich auf das Musizieren ohne Netz ein, in äusserster Empfindsamkeit und Frische, angeleitet vom charismatischen Dirigenten und Komponisten Nikolaus Matthes.

Zur Komposition: Das Textbuch hat Matthes von Grund auf neu vertont. Das polyphone Geschehen, beim ersten Hören ganz im Stile Bachs, weist weit über diesen hinaus und eröffnet Momente, die durch enharmonische Verwandlungen, äusserste Intensität der Modulationen und die Häufigkeit von Trugschlüssen und anderer Verrückt-Heiten, weit über die Zeit Bachs hinausweisen, das Werk immer wieder als auch Zeitgenössisches kenntlich machen. Als würde Bach heute rückwirkend eingreifen, bis zur Demontage seiner Ordnungsprinzipien ins fast Zwölftönige, mit berührenden romantischen Anklängen, grossen Bögen, wilden, verzweifelten Momenten. Die Ergriffen- und Berührtheit des Publikums war spürbar. Als Beispiele zu erwähnen in diesem Zusammenhang sind die grosse Arie für Tenor solo und Traverso, ein Meisterwerk der Verinnerlichung und Meditation, der im wahrsten Sinne des Wortes todtraurige und hochemotionale Schlusschor des ersten Teils, der das Zeug hätte, in die Musikgeschichte einzugehen, die »Kreuzige«- Chöre, in denen Schrecken und Einsturz der Mitmenschlichkeit, gerade auch im Sinne der Zeitgeschichte, hörbar werden, immer wieder die überreich harmonisierten Choräle, in unfassbarer Originalität, eben im Stile Bachs, und doch ganz und gar Nikolaus Matthes, das Publikum keinen Moment in falscher Ruhe oder Sicherheit belassend – und der grosse, versöhnliche Siciliana-Schlusschor, bei dem wohl allen, musizierend oder zuhörend, Gefühle von Trauer, Verzweiflung, Freude und Versöhnlichkeit gleichzeitig durch Herz und Seele gingen.

Die tiefe Emotionalität dieses Stücks ist wegweisend für die heutige Musik, ganz und gar natürlich und zwingend. Ich verweise auf den Artikel von Roland Zag: »Aus der Tiefe – Vom Schicksal der neuen Musik im deutschsprachigen Raum, Lettre 140« (Europas Kulturzeitung), zufällig jetzt im März 2023 erschienen –, in welchem er ausführlich die grossflächig fehlende Emotionalität der neuen Musik nach 1945 konstatiert, erforscht und die historischen Wurzeln dieses Mangels herleitet. Auch auf Grundlage der von ihm beschriebenen Sachverhalte ist ein zeitgenössisches Werk solcher Dimension wichtig, da es erschüttert, aufwühlt, über Tage weiterwirkt in der Konfrontation mit einem uralten Text darüber, wie einer fertig- gemacht wird, in Konfrontation mit den Stilmitteln Bachs und dem Aufbrechen derselben in die Musik von heute, ohne nur einen Moment in Beliebigkeit abzugleiten oder den Affekt barocker Musik und die Emotionalität und das seelische komplexe Leben des modernen Menschen aus den Augen zu verlieren. Zu dieser Emotionalität gehört auch die Farbigkeit der Orchestrierung: Cembalo, Orgel, Fagott, Gamben, Violen, Kontrafagott tragen erheblich zu Tiefe, Vibration (fast möchte ich sagen: Vibes) und Boden, auch seelischem Boden, bei.

Dirigat: im Wissen darum, dass vor ihm aussergewöhnlich kompetente Fachleute sitzen und stehen, lässt Matthes sein Ensemble spielen, musizieren, singen, sich finden, sich verlieren, formieren, zu Hochform auflaufen. Hier wird nichts unterdrückt, sondern noch nach dem verklungenen Schluss einer Nummer eine Bewegung in aller Ruhe zu Ende dirigiert – die bemerkenswerte, nicht zu verortende Transzendenz dieser Musik hat vielleicht auch mit der Art des Dirigierens zu tun: Gemeinsam gehen wir durch diese Passion, entdecken sie und lassen sie klingen. Eine derart hochkomplexe Partitur so logisch, sanft (fast möchte ich sagen: liebevoll) und kraftvoll zu musizieren ist grosse Kunst, die man seinem Ensemble nicht entreissen, sondern nur wachsen und gedeihen lassen kann. Nikolaus Matthes muss ein Mensch sein, der nichts dem Zufall überlässt in Komposition, Planung, Vorbereitung, Auswahl seiner Leute – und der gerade darum im entscheidenden Moment des Musizierens loslassen kann, entstehen lässt, selbst das Publikum wahrzunehmen scheint, mit den Stimmungen des Raums arbeitet.

Die beiden Evangelisten tragen wesentlich zur Einzigartigkeit dieser Passion bei. Auch dies eine so wunderbar zeitgenössische Idee: Partnerschaftlich wird der für eine Seele zu schwere Stoff vermittelt, mit zwei verschiedenen Stimmen und Stimmungen, mitteilend: Einer allein genügt nicht, nicht mehr, um das Grauen unserer Zeit zu erzählen, zu tragen. Dass beide Evangelisten auch Arien singen, verstärkt die Komplexität dieser Partitur im tiefenpsychologischen Sinne.

Wie weiter? Zutiefst berührt, wohl nie mehr in der Lage, eine Passion Bachs zu hören, ohne daß sie durch diese Vertonung von Nikolaus Matthes neu klingen würde, ebenfalls moderner, in ihren Tiefen, im Subkutanen als noch tragischer kenntlich gemacht, und in diesem Hinhören, Hinsehen, emotionalen Mitgehen, einer Warnung vor menschlicher Bösartigkeit, weniger in der Unfähigkeit zu trauern (A. und M. Mitscherlich) gefangen, bin ich doch gleichzeitig bekümmert über die vollständig fehlende Reaktion des öffentlichen kulturellen Echo-Raums. Wenn das Freiburger Barockorchester in einem Planetarium Vivaldis Jahreszeiten in gelungener Aufführung für ARTE einspielt, wäre es passend, auch diese Markuspassion für ARTE zu produzieren, um sie einer breiten Öffentlichkeit vertraut zu machen, da sie tatsächlich einzigartig und aufrüttelnd ist, unter dem Sternenhimmel von heute - sozusagen. SRF hätte gleichermaßen den Auftrag, diese Produktion einzuspielen und zu senden, da sie zum bedeutenden Fundus der Musikproduktion der letzten Jahre in der Schweiz gehört. Die Passion müßte ebenso am Bachfest Leipzig erklingen, als Kommentar zur Bachforschung und zur Musik Bachs aus heutiger Sicht. Und von dort aus bekannt werden, für viele Menschen zugänglich, um berührt zu werden und, daraus resultierend, berührbarer.

So bleibt mir nur eines: Danke zu sagen! Dem Schöpfer dieses Werks, Nikolaus Matthes, und allen, die diese Musik für die Welt zum Klingen gebracht haben – denn dass dieses Werk nun existiert und aufgeführt wurde, ist das allerwichtigste. Bach selbst hat beispielsweise seine h-Moll-Messe nie gehört. Um wieviel besser steht es nun um dieses Werk, die »Markuspassion« von Nikolaus Matthes, das bereits aufgeführt, aufgenommen und von vielen gehört wurde. Untergehen wird diese Musik nicht mehr.

»… Musik. Du uns entwachsener / Herzraum …« schreibt Rilke in seinem Gedicht An die Musik. Dieser günstigste, zutiefst menschliche Fall, dass Musik sich manifestiert aus den Tiefen unserer Herzenskraft und unseres Herzraumes, uns erschüttert und tröstet, ist mit dieser Passion eingetreten.

Pius Strassmann, Luzern; April 2023